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Dieses Interview aus dem Jahre 2004, das mir gerade beim Sichten meiner Unterlagen in die Finger kam, hat vieles ausgesprochen, was mich noch heute bewegt.
Christian Peter

«Eurythmie ist kein Morsealphabet»

Ein Gespräch mit Christian Peter alias Mephisto

M&T: Was zeichnet die anthroposophische Sprachgestaltung aus?
Christian Peter: Man drückt mit Sprache einen Bewusstseinszustand aus. Wenn ich verschlafen oder betrunken bin, rede ich anders, als wenn ich wach bin. In einem von Hexen bewohnten Bereich habe ich ein anderes Bewusst­sein, als wenn ich am Bahnhof stehe. Egal ob man an Engel glaubt oder nicht, wenn wir uns unter einem Engel ein Wesen ·orstellen, das nicht wie ein Mensch ist, sondern woanders her­ kommt und Flügel hat, dann nehmen wir an, dass dieses Wesen anders spricht als der Herr Müller von nebenan. Es geht nun in Rudolf Steiners Sprach­ technik darum, dass man nicht nur Inhalte transportiert oder Gefühle auf die Sprache klebt, sondern dass man spezifische Lautqualitäten herausarbei­tet. Wir versuchen, was qualitativ vom Engel kommt, ins Sprechen einfliessen zu lassen. Dabei tun wir nichts in die Sprache rein, sondern holen etwas aus ihr heraus, bringen es in eine künstleri­ sche Form und nutzen es als Gestal­tungsmöglichkeit.

M&T: Ist Eurythmie vergleichbar mit Choreografie?
Christian Peter: Im Tanz begleite ich die musikalische Bewegung mit Choreografien. Die Eurythmie scheint zwar oft die Sprache zu begleiten, aber eigentlich spricht sie selber. Man hat beobachtet, dass bei unterschiedlichen Lauten spezifische Bewegungsformen in der Luft entstehen. Diese macht nun die Eurythmie mit Körperbewegungen sichtbar, sie ist insofern sichtbare Sprache. Der Eurythmist illustriert also die Sprache nicht, sondern wirkt wie ein grosser Kehlkopf: Beim Vokal «a» sind Mund und Gaumen offen, und beim eurythmischen «a» sind die Arme in einem 45-Grad-Winkel vom Körper weggestreckt. Beim «e» klebt die Zunge am Gaumen, und beim eurythmischen «e» sind die Arme gekreuzt. Es geht nicht um einen intellektuellen Vor­gang, sondern um das Sichtbarmachen dessen, was man sonst hört.

M&T: Könnte man einen "Faust»-Monolog nur eurythmisch "sprechen»?
Christian Peter: Eurythmie ist kein Mor­sealphabet, welches das Publikum zu entziffern versucht. Doch ich glaube, bei guter Eurythmie würde sich der Zuschauer plötzlich fragen «Wer hat denn da gerade gesprochen?», weil er etwas unmittelbar verstanden hat. Wenn ich – wie jetzt mit Ihnen – spreche, dann versuchen wir primär, Inhalte auszutau­schen. Die Eurythmie erlaubt es, nicht so sehr auf das Wort begrenzt zu sein, sondern überirdische Wesen auch über­persönlicher zu machen, als das ein Schauspieler könnte.

M&T: Spricht eine eurythmisch dargestellte Figur gleichzeitig?
Christian Peter: Nein, es spricht jemand anderes. Man spricht ja schon mit den Händen, da kann man nicht auch noch Worte sprechen. Sonst würde die Bewegung zu etwas Beglei­tendem. Als Schauspieler legt man einen Teil der Intention in die Sprache, den andern in die Bewegung. Bei der Eurythmie geht die ganze Sprachinten­tion in die Bewegung.

M&T: Warum wird am Goetheanum seit Jahrzehnten «Faust» inszeniert?
Christian Peter: Was im «Faust» als Anliegen steckt, ist dem Thema der Anthroposophie nah verwandt. Faust, der strebende Mensch, der an den Erkenntnisgrenzen rüttelt und sogar den Pakt mit dem Teufel für seine Erkenntnissuche nutzt, demonstriert die Suche nach dem Sinn des Lebens.
Die Anthroposophie beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen nach dem Vorher und Nachher und den jeweils herr­schenden Gesetzmässigkeiten.

M&T: Sie selber inszenierten "Faust» im Goethe-Jahr 1999. Wie würden Sie zu den umstrittenen Begriffen «werkgetreu» und «ungekürzt» Stellung nehmen?
Christian Peter: Ungekürzt verstehe ich so, dass man alles spielt, was Goethe geschrieben hat. Das muss unbedingt sein. «Faust» ist ein völlig heterogener Text: das eine ist aus Goethes Sturm­-und-Drang-Zeit , das andere schrieb er kurz vor seinem Tod. Und das Ganze ist nicht optimiert worden, was auch seinen Reiz ausmacht. «Werkgetreu» heisst für mich, dass ich versuche, dem Stück zuzuhören, anstatt ihm meine Vorstellung aufzuzwingen. Ich denke, Peter Stein probte den «Faust» genau so. Ich glaube, das ist eine für den Zuschauer nur bedingt sichtbare Haltung des Regisseurs. Man kann durch Provokation oder Verfremdung auch mal was rausholen. Aber die Leute wol­len nicht sehen, was ich aus dem Stoff mache, sondern sie wollen Goethes «Faust» so aufgearbeitet sehen, dass sie etwas dabei erleben können.

M&T Was ist Ihnen wichtig an der Gestaltung des Mephisto?
Christian Peter: Ich möchte Mephistos Facettenreichtum herausarbeiten: die Figur ist nicht nur der Teufel oder das Böse. Mephisto ist uns Menschen in dem, was er tut eigentlich viel verständlicher und zugänglicher als Faust. Mephisto ist ein Teil von Faust. Faust spiegelt sich in Mephisto und wird durch ihn herausgefordert. Durch das ganze Stück hindurch tut Mephisto immer gerade das Gegenteil von Faust.

Interview von Simone von Büren in Musik&Theater anlässlich der Premiere Ostern 2004